Wrusch, wrusch, wrusch. Anna schrammt mit Inbrunst über das Holzxylophon. «Das ist aber Katzenmusik», meint Leon und widmet sich wieder seinem Puzzle. «Wenigstens bin ich kreativ», kontert sie.

Die kecke Anna und der wissbegierige Leon: zwei von sechs Kindern, die regelmässig am Montagabend an den Treffen der Stiftung Windlicht teilnehmen. Ihre Eltern haben psychische Probleme – etwa eine Depression oder Suchterkrankung. Das bekommen auch die Kinder zu spüren. Ihr Alltag ist oft stark davon geprägt und verlangt von ihnen Reife und Resilienz. Bei der Stiftung Windlicht stehen die Kinder im Zentrum, nicht die Erkrankung der Eltern. Hier sind sie wichtig, hier dürfen sie Kind sein.

Rituale, die verbinden und Sicherheit geben

Den Auftakt für die Treffen bildet ein Zvieri in der Küche, der mit einem Klatschritual eröffnet wird. Zwischen zwei Apfelschnitzen erklärt Leon, wie ein bionischer Arm bewegt wird – und dass Moby Dick ein grosser, weisser Pottwal sei. Die Atmosphäre ist ungezwungen, es wird viel gelacht. Die Betreuerinnen – eine Diplompädagogin und eine Fachmitarbeiterin – gehen auf die Kinder ein, sie sprechen mit ihnen über alles, was sie bewegt. Sie hören aufmerksam zu und fragen interessiert nach. Sie schenken den Kindern die ungeteilte Aufmerksamkeit, die in ihrem Alltag oft Mangelware ist. Es ist viel Vertrautheit spürbar. Vertrautheit und Vertrauen. Damit dies gewährleistet werden kann, besteht eine Gruppe aus maximal sechs Kindern.

Das Besondere am Windlicht?
Hier müssen die Kinder keine Rolle einnehmen. Sie sind so willkommen, wie sie sind. Zu Hause sind Reaktionen oft unberechenbar, die Kinder passen sich entsprechend an. Bei der Stiftung Windlicht ist dies nicht der Fall. Das hat auch der clevere Leon gemerkt und ein Experiment gestartet: Während einer Phase imitierte er bei den Treffen das problematische Verhalten seines Bruders, um zu schauen, welche Reaktionen er damit provozieren kann. Leon interessiert sich für alles Mögliche. Architektur, Technik, Tiere. Er wünscht sich ein Samstags-Windlicht, damit alle zusammen in den Zoo gehen können. Die Nashörner findet er besonders spannend.

Die Kinder geben den Ton an
Nach dem Zvieri geht es von der Küche weiter in den Nebenraum, ein behaglich eingerichtetes grosses Spielzimmer mit einem schweren Holztor. Gesäumt ist der Raum von verschiedenen Regalen. Sie sind gefüllt mit Büchern, Gesellschaftsspielen und Spielzeugautos in allen Grössen. Ein gelbes und ein weisses Sofa bilden die Ruhezone. Wer sich zurückziehen möchte, nimmt darauf Platz. Die Kinder geben vor, was sie machen möchten, die Betreuerinnen unterstützen sie dabei und machen Vorschläge. Sie lassen sich auf sie ein, ermutigen sie und bieten Hand. Anna möchte gerne zeichnen, Leon bastelt an einem dreidimensionalen Puzzle – dem schiefen Turm von Pisa. Er wünscht sich mehr solche Puzzles, immer neue Herausforderungen. Anna hat sich inzwischen die Wandtafel geschnappt und malt Mangas. Sie hat sich eine Geschichte ausgedacht über eine männliche Fee, die ihre Flügel erst mit zwölf Jahren bekommt. Erst dachten alle, es stimme etwas nicht mit der jungen Fee, doch dann merkten sie, dass sie besondere Kräfte habe. Anna, die Kreative, Leon, der kleine Wissenschaftler.

Spass statt Verantwortung
Viele Kinder in der Schweiz wachsen in schwierigen Verhältnissen auf: Etwa, weil ihre Eltern sich aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht genügend um sie kümmern können. So übernehmen die Kinder viel zu früh viel zu viel Verantwortung. Es fehlt ihnen an Konstanz und emotionaler Sicherheit. Die Montagsgruppe im Windlicht ist seit gut einem Jahr recht stabil und hat gut zusammengefunden. Die Kinder bedauern, dass Ilaria heute fehlt. Der Transport, ein wichtiger Bestandteil des Angebots, hatte aufgrund eines Missverständnisses nicht geklappt: Ilaria sei ausser sich vor Enttäuschung. Das Windlicht ist ein besonderer Ort für sie. Hier fühlt sie sich immer willkommen und hat gelernt, besser mit Frustrationen umzugehen, andere Verhaltensformen einzusetzen. «Sie hat erkannt, dass die Regeln immer dieselben sind und ein Nein mit liebevoller Zuwendung kommuniziert wird», erklärt die Fachmitarbeiterin. Das gebe ihr Orientierung, Sicherheit, Ruhe und letztlich Verlässlichkeit. «Ich vermisse euch», schreibt Mahdi, der heute krank ist, per SMS. Leon erkundigt sich mehrfach nach ihm. Die Kinder im Windlicht verfügen über ein sehr feines Sensorium. Sich aufgenommen und richtig zu fühlen, ist für sie und ihre Entwicklung besonders wichtig. Sie wissen, dass die anderen Kinder hier ähnliche Themen in ihrem Elternhaus haben. Das verbindet, auch wenn nur auf Wunsch der einzelnen Kinder darüber gesprochen wird. Im Windlicht können sie sich einbringen und mitgestalten. Sie betrachten die Treffen als etwas, das ihnen gehört.

Spielend Ressourcen stärken
Die Diplompädagogin weiss: Eine einzige Stunde pro Woche, in der ein Kind ungeteilte Aufmerksamkeit, Verbindlichkeit und Sicherheit bekommt, kann seine Ressourcen stärken für Schwieriges, das es im Alltag erlebt. Das haben Studien ergeben. Darum sind die Basis für die Windlicht-Treffen Konstanz und Akzeptanz. Es erstaunt nicht, dass sich die Kinder sehr auf die Treffen freuen. Auf ihren besonderen Ort, der nur ihnen gehört. Die Kinder haben inzwischen zusammengefunden. Mit kleinen Reissäckchen spielen sie eine Art Boccia. Aufgeregt warten sie, bis sie mit Werfen dran sind. Die Stimmung ist ausgelassen, aber friedlich. Die Kinder im Windlicht haben einen sehr schönen und liebevollen Umgang miteinander, bestätigt die Diplompädagogin. Pffft. Pffft. Pffft. Pffft. Pffft. Ein Säckchen nach dem anderen fliegt durch die Luft und landet weich auf dem Teppich. Besonders gute Würfe werden mit einem Applaus quittiert.

Ein Schatz zum Mitnehmen
Als Nächstes sind Rhythmusgefühl und Koordination gefragt. Die Kinder tanzen und bewegen sich, wie sie möchten – so lange die Musik spielt. Stoppt die Musik, bleiben sie stocksteif stehen. So sind die Regeln. Wer nicht schnell genug reagiert, scheidet aus. Eine Betreuerin ermahnt die Gruppe: «Alle Tanzstile sind möglich, niemand wird für seine Bewegungen ausgelacht». Die Musik hat Boris mitgebracht: ein flotter Rap, zu dem sich die Kinder ausgelassen bewegen. Auch für einen kurzen Spaziergang über den Hof reicht die Zeit noch. Zum Schluss setzen sich alle mit roten Wangen in einem Kreis auf den Teppich. Die Kinder wissen, was jetzt kommt. Sie werden aufgefordert innezuhalten und zu sagen, was ihnen am besten gefallen hat. «Die grosse Aufmerksamkeit, weil nicht alle Kinder da waren», meint Leon verschmitzt. «Das Essen» oder «der Spaziergang» werden ebenfalls genannt. Dieses positive Gefühl können die Kinder mitnehmen. Wie einen Schatz aus einem sicheren und berechenbaren Ort: Ein Schatz, der ihnen Kraft gibt in ihrem oft schwierigen Alltag.